Armut ist auch in Vorarlberg weiblich

Bei Menschen, die mit wenig Ressourcen leben müssen, wirken die Corona- und Teuerungskrise immer noch deutlich nach. Die Quartalserhebung der Statistik Austria zu den Krisenfolgen zeigt, dass für viele Menschen in Österreich die Nachwirkungen der Krisen zwar deutlich abgeebbt sind, gleichzeitig gibt es aber eine Gruppe von Menschen, die weiterhin mit den Krisenfolgen zu kämpfen hat und sich von den Krisen nicht erholt. Im November wirft die Caritas den Blick auf die besonderen sozialen Problemlagen von Menschen in Vorarlberg, sowie auf die Möglichkeiten und Notwendigkeiten, Menschen in diesen Problemlagen zu helfen.

„Die Menschen, die bei der Caritas Hilfe suchen, müssen im Normalfall mit erheblichen Entbehrungen leben, können beispielsweise nicht ihre gesamte Wohnung heizen, oft bleibt auch ihr Kühlschrank gegen Monatsende fast leer“, beschreibt Caritasdirektor Walter Schmolly im Rahmen eines Pressegesprächs. „Das die Zahl dieser Menschen aufgrund der nachwirkenden Krisen größer geworden ist, spiegelt sich deutlich auch an den Beratungseinrichtungen der Caritas wider. In den ersten drei Quartalen 2024 haben im Gesamten um 17 Prozent mehr Personen - nämlich 5996 - über die Caritas-Beratungsstellen Unterstützung erhalten als im Vergleichszeitraum des Vorjahrs.“

Die Zahl der mitbetroffenen Kinder nimmt zu
Die Statistik der Caritas Beratungsstelle Existenz&Wohnen zeigt auch, dass die Zahl der in diesen Familien mitbetroffenen Kinder weit überproportional gestiegen ist, nämlich um 25 Prozent auf 2.279. „Vier von zehn Personen, die über die Caritas-Beratungsstelle Existenz&Wohnen unterstützt werden, sind Kinder“, nennt der Caritasdirektor die genaue Anzahl mit 38 Prozent. Deutlich machen die Zahlen auch, dass Mehrkind-Familien und Familien mit alleinerziehenden Elternteilen öfter Unterstützung von Außen brauchen, um ihren Alltag meistern zu können. „Knapp 35 Prozent der Familien mit Kindern, die in den Beratungsstellen Hilfe bekommen, sind Alleinerziehenden-Haushalte. Zum weit überwiegenden Teil Frauen – österreichweit sind es 83 Prozent.“

Viel Arbeit – wenig Geld
Im Kontakt mit den Müttern der Lerncafé-Kinder bekommt Lerncafé Koordinatorin Denise Zech hautnah mit, wo der sprichwörtliche „Hut“ gerade bei Alleinerzieherinnen brennt: „Sie versuchen alles unter einen Hut zu bringen: Job, Familie, Ausbildung der Kinder, schulische Angelegenheiten, Haushalt, und und und. Oft berichten sie von Überlastungen, Überverantwortung, Müdigkeit, Stress, Geldsorgen und Zeitmanagementproblemen - sie müssen an alles denken, für alle Familienmitglieder jederzeit da sein.“ Denise Zech erzählt aber auch von verheirateten Frauen, die geringfügig in schlechtbezahlten Jobs tätig sind, um zumindest ein bisschen einen Zuverdienst für die Familie zu bekommen. „Sehr viele arbeiten Teilzeit, einen Platz für die Kleinkindbetreuung zu erhalten gestaltet sich öfters schwierig.“

Frauenarmut trifft Kinder doppelt
Kinder aus armutsbetroffenen Familien – meistens die Mädchen – übernehmen oftmals schon sehr früh viel Verantwortung in der Familie. Oft zu viel, wie Denise Zech an einem Beispiel erläutert: „Ein zwölfjähriges Mädchen aus dem Lerncafé erzählte kürzlich, dass sie oft auf ihre vierjährige Schwester aufpassen muss. Der Vater ist bei der (Schicht-)Arbeit, die Mutter besucht einen Deutschkurs. Zeit für die eigenen Hausübungen ist dann erst abends. Zudem muss sie sehr vieles für die Familie erledigen, weil sie in der Familie die besten Deutschkenntnisse hat. Für das Mädchen sei es fast normal, dass sie so viel Verantwortung übernimmt: „Wir haben keine Verwandten in der Nähe. Deshalb helfe ich meinen Eltern, so gut es geht.“
Rund 500 Kinder und Jugendliche werden in den aktuell 16 Lerncafés beim Lernen, ihren Hausübungen und bei Vorbereitungen auf Tests von Freiwilligen unterstützt. „Herzensbildung, Entwicklung eines Teamgeistes, Vielfalt leben, Demokratieverständnis und Miteinander sind weitere wichtige Eckpfeiler“, erklärt Denise Zech.

Beispiel Notschlafstelle
Ein konkretes Beispiel prekärer Frauenarmut erzählt die Stellenleiterin der Notschlafstelle der Caritas im Kolpinghaus am Feldkircher Jahnplatz, Alexandra Achatz: „Spätabends klingelte eine Frau, die zuvor schon einige Nächte im Freien verbracht hatte, an der Tür der Notschlafstelle. Die 28-jährige Frau war völlig durchgefroren und gesundheitlich angeschlagen. Nach einem kurzen Erstgespräch wurde ihr ein Zimmer zugewiesen, damit sie sich erstmal aufwärmen und erholen konnte. Nach einer Eingewöhnungsphase erzählte die junge Frau ihre Geschichte: Sie hatte lange denselben Job und lebte in einer Frauen-WG. Doch als eine ihrer Freundinnen mit ihrem Partner zusammenziehen wollte, musste sie aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen. Die Suche nach leistbarem Wohnraum gestaltete sich allerdings extrem schwierig. Ohne festen Wohnsitz war es für die junge Frau dann auch nicht mehr möglich, ihrer Arbeit nachzugehen. Auf einmal stand sie alleine da – ohne Wohnung und ohne Job.

„Frauen tun viel dafür, nicht als wohnungslos wahrgenommen zu werden“
Das Team der Notschlafstelle half dabei, eine kostengünstige Wohnung zu finden. Zwischenzeitlich hat die Klientin auch wieder einen Job gefunden. Solche positiven Wendungen sind übrigens auch für Team der Notschlafstelle ein Grund zur Freude und Motivation in der täglichen Arbeit. 195 Menschen fanden im vergangenen Jahr vorübergehend Unterkunft in der Notschlafstelle, insgesamt wurden 1.536 Nächtigungen registriert. Der Frauenanteil ist mit 27 nach wie vor vergleichsweise gering. „Frauen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, nehmen über Monate oder Jahre hinweg sehr viel in Kauf, um nicht auf der Straße leben oder schlafen zu müssen. Sie kommen beispielsweise bei Freund*innen oder Bekannten unter, ertragen häusliche Gewalt und/oder geraten in Abhängigkeitsbeziehungen“, erzählt Alexandra Achatz. „Frauen tun oft viel dafür, nicht als wohnungslos wahrgenommen zu werden. Sie scheinen in keiner offiziellen Statistik auf, in der Gesellschaft bleiben sie weitestgehend unsichtbar. Viele meiden aus Scham und Stigmatisierung Einrichtungen für wohnungs- und obdachlose Menschen.“

Wie lässt sich der sozialen Benachteiligung und Armut von Frauen entgegentreten? Caritasdirektor Walter Schmolly nennt vier zentrale Maßnahmen:

1. Der Sozialstaat darf nicht geschwächt werden, sondern muss bedarfsorientiert weiterentwickelt werden.
Ziel der Regierungen auf Bundes- und Landesebene muss sein, konsequent das Ziel zu verfolgen, Armut in der Gesellschaft, und damit insbesondere auch Frauen- und Kinderarmut zu vermeiden. „Längerfristig ist ein solcher Sozialstaat eine wichtige Investition in die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft“, ist Walter Schmolly überzeugt, und fordert, dass der Budgetdruck nicht zu Einsparungen zu Lasten sozialer Aufgaben führen darf.

2. Den Gender-Care-Gap schließen.
Vergangene Woche war der Gender-Pay-Gap in den Medien, wonach in Vorarlberg Frauen im Durchschnitt um knapp ein Viertel (23,4 Prozent) weniger verdienen als Männer. Betrachtet man die Entwicklung dieses Gender-Pay-Gap entlang dem Lebensalter, dann sieht man, dass der große Knick, an dem die Gehälter von Frauen und Männern auseinandergehen, zwischen 20 und 29 liegt, also wenn das erste Kind zur Welt kommt. Das weist zur stärksten Ursache und zum entscheidenden Hebel der Veränderung: der Gender-Care-Gap. Zwischen 25 und 39 leisten Frauen im Schnitt doppelt so viel unbezahlte Care-Arbeit wie Männer. Einen zweiten, aber nicht ganz so ausgeprägten Ausreißer gibt es um das Pensionsantrittsalter herum zwischen 55 und 64. Und die Frauen leisten diese unbezahlte Care-Arbeit, obwohl sie sich diese mit Blick auf ihre existenzielle Absicherung eigentlich nicht leisten können. Der Preis geht von verwehrten beruflichen Chancen über den Gender-Pay-Gap bis zur niedrigen Pension – zwei Drittel der Mindestpensionist*innen sind Frauen. Es ist entscheidend, den Gender-Care-Gap zu schließen, eine Aufgabe, die die Wirtschaftspolitik nicht weniger betrifft als die Sozialpolitik.

3. Erhöhung der Ausgleichszulage.
Die Ausgleichszulage liegt mit aktuell 1.421 Euro monatlich um 151 Euro unter der Armutsgefährdungsschwelle von aktuell 1.572 Euro. Eine Erhöhung käme den Mindestpensionistinnen und allen Bezieherinnen von Sozialleistungen, die an die Ausgleichszulage gekoppelt sind, zugute.

4. Chancengerechtigkeit für alle.
Die Situationen, von denen aus Kinder ins Leben starten, sind unvermeidbar sehr verschieden. Es ist deshalb eine humanitäre Verantwortung einer Gesellschaft, Chancengerechtigkeit bestmöglich zu unterstützen, damit jedes Kind seine Persönlichkeit und Potenziale entfalten kann. Die Caritas-Lerncafés sind hierfür ein schönes und sehr erfolgreiches Beispiel. Kinder haben hier eine förderliche Lernumgebung, die präventiv Benachteiligungen verhindert oder zumindest abfedert. Ein wichtiger Teil ist dabei auch die Arbeit mit den Eltern, um sie in ihrer Rolle zu stärken und herausfordernde Situationen zu besprechen.

Ein gutes Miteinander
Ein Blick auf diese vier Maßnahmen macht deutlich, dass soziale Benachteiligung und Armut nur im Zusammenwirken von Politik, Zivilgesellschaft und Institutionen gemeinsam überwunden werden können. So ist auch die Caritas, um helfen zu können, auf entsprechende Rahmenbedingungen und auch auf Freiwilligen-Engagement und auf Spenden angewiesen.

Aktuelle Herausforderung
Die Inlandshilfe bildet eine wesentliche Basis, um Menschen in Notlagen beispielsweise durch Lebensmittelgutscheine, Energiekostenübernahme, Nachverrechnungen, Überbrückungen bei Unterhaltszahlungen oder durch die Abwendung einer drohenden Delogierung helfen zu können. Zum 100-jährigen Jubiläum hat sich die Caritas Vorarlberg heuer zum Ziel gesetzt, die Notschlafstelle der Caritas im Kolpinghaus Feldkirch umfassend zu sanieren und speziell auch für Frauen viele Verbesserungen umzusetzen. „Wenn es um das Wohnen geht, ist das unterste Auffangnetz die Notschlafstelle. Wir möchten für obdachlose Menschen menschenwürdige Räumlichkeiten und einen sicheren Ort bieten“, ruft Caritasdirektor Walter Schmolly abschließend zu einem solidarischen Miteinander aller Menschen in Vorarlberg auf. „Wir sind in unserer Arbeit in vielen Bereichen auf die Unterstützung von Spender*innen angewiesen. Jede Spende macht für armutsbetroffene Menschen einen großen Unterschied!“