Verzicht ja oder nein?

Verzichten - soll man oder soll man nicht? Was bedeutet Verzicht und lohnt er sich? Bernhard Gut, Klinik- und Gesundheitspsychologe, nähert sich diesem Thema in einem Interview.

Ist Verzicht in unserer modernen Zeit überhaupt noch etwas Erstrebenswertes?
Bernard Gut: Der eigentliche Verzicht ist nichts „Mainstream-mäßiges“ - und ist er ein solcher, dann hat es wenig mit dem zu tun, was Verzicht eigentlich meint. Verzichten ist auch nichts angenehmes, oder heroisches, und man muss den Verzicht auch nicht idealisieren. Verzicht bedeutet ja nichts anderes, als eine Möglichkeit, die ich habe, nicht Wirklichkeit werden zu lassen: zum Beispiel, wenn ich abends weggehe, könnte ich Alkohol trinken - tue es aber nicht - auch wenn der Wunsch oder das Bestreben da wäre, es zu tun. Das heißt ich lasse eine Möglichkeit, die mir gegeben ist, nicht Realität werden, nicht in die Wirklichkeit treten - wollte man es eher in einem philosophischen Sprachgebrauch formulieren. Das Entscheidende beim Verzichten ist die Wahrnehmung und das „Sich-bewusst-werden“ der Möglichkeit und des Wunsches danach. Verzicht schmerzt immer ein bisschen, weil ich etwas nicht Wirklichkeit werden lasse. Wir sagen ja umgangssprachlich auch „Rechter Verzicht muss weh tun...“.

Wenn aber Verzicht nun „wehtun soll“ - was haben wir denn davon?
Bernhard Gut: Im Verzichten kann ich etwas ganz Entscheidendes und Wesentliches üben und erfahren, nämlich das „Lassen“, das „Sein-lassen“. Wir leben ja in einer Zeit des Handelns, des Tuns, des ständigen Sich-bewegens, des Wechsels. Stichworte sind Flexibilität, Mobilität, Aktionismus. Paul Zulehner meinte einmal, dass wir ja ständig auf der Flucht sind, und - so meine Anmerkung - auch oft nicht klar ist, was denn das eigentliche Ziel dieser Flucht ist. In der Sozialpsychologie finden wir den Begriff des „unternehmerischen Selbst“, also einer Person, die immer auf der Hut sein muss, dass er oder sie nicht von anderen überholt wird, die besser, schneller, erfolgreicher sind als die eigene Person. Wir sind größtenteils Macher geworden und wir haben mitunter etwas ganz Wichtiges verlernt, nämlich das „Lassen-können“, das „Sein-lassen-können“.

Was ist der Vorteil des Sein-lassen-könnens"?
Bernhard Gut: In Afrika gibt es ein Sprichwort: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ Aus der Natur können wir lernen, was alles aus dem Lassen entstehen kann, nämlich das Eigentliche und Wesentliche. Es ist ja grundsätzlich so, dass ich die wirklich wichtigen Dinge und Erfahrungen im Leben ja gar nicht machen kann: ich kann mich nicht geplant verlieben, ich kann nicht auf Kommando fröhlich sein oder weinen, ich kann mich nicht selbst überraschen. All diese Dinge haben mit „Zulassen-können“ zu tun. Ich muss sie geschehen lassen, mich darauf einlassen - und dann werde ich wirklich diese Erfahrungen, in die mich das Leben gestellt hat, auch erleben können. Dieses „Lassen-können“, „Zulassen-können“ kann man ein bisschen üben - und Verzicht ist ein Weg dazu.

Das Bemerkenswerte beim Verzicht ist ja, dass nichts hinzukommt, sondern etwas weggelassen wird. Ich verwirkliche eine Möglichkeit eben nicht. Aber - und darin liegt das Geheimnis: Ich gebe einer anderen Möglichkeit die Chance, sich zu verwirklichen. Das kann im Bereich des Wohlbefindens sein, aber auch im Bereich der Erkenntnis. Manchmal kommt diese andere Möglichkeit nicht sofort und gleich, und wir glauben, dass wir nur auf etwas verzichtet haben, etwas unterlassen haben. Wenn wir aber genau hinschauen, findet sich immer ein Ergebnis, eine Folge, ein Er-folg im Verzichten. Warten können braucht die Fähigkeit der Gelassenheit, und Gelassenheit meint ja im Kern, etwas lassen-können, zulassen-können. Und genau da schließt sich wieder der Bogen. Verzicht lohnt sich – vielleicht nicht sofort und gleich - aber mit der entsprechenden Gelassenheit und Aufmerksamkeit wird sichtbar, dass nicht nur etwas nicht umgesetzt wurde, sondern dass etwas Neues entstanden ist, hinzugekommen ist. Insoweit – und das mag paradox klingen – „lohnt sich Verzicht“…!    

Zur Person:
Mag. Bernhard Gut, DSA
Klinik- u. Gesundheitspsychologe, Dipl. Sozialarbeiter
Suchtfachstelle Bregenz - Gemeinwesen orientierte Suchtarbeit

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